„Wo kam die Stimme denn so plötzlich her?“, fragte Iris ihre Freundin Acia.

     „Das war Themma Tighhoor. Und sie war nicht sehr freundlich aufgelegt.“

Iris schwieg, dann wiederholte sie ihre Frage: „Wo kam die Stimme von Themma Tighhoor her?“

     „Von überall!“, murmelte Caitlin und warf theatralisch die Arme in die Höhe.

     „Dann lasst uns mal los gehen“, sagte Giada und stapfte los. Sie verursachte dabei nicht das leiseste Geräusch.

     Als die Kinder ein paar Meter weit gegangen waren, stoppte Caitlin alle, da sie an der Spitze ging. „Da vorn!“, zischte sie leise. „Seht ihr die vielen Lichter?“

     „Ja.“ Carry nickte. „Was ist das?“

     „Das“, gab Acia von sich. „sind die Toten.“

     „Und wir suchen einen ganz bestimmten“, fügte Jason hinzu. „Weiß einer, wo wir suchen müssen?“

     Locor?, fragte da eine Stimme in den Köpfen der Kinder. Da hatte der junge Informatiker eine Idee. „Wir können voll und ganz auf die drei Arkana vertrauen“, sagte Jason zufrieden. „Toll“, stöhnte Dillion. „Wie mache ich das denn?“ – „Zuhören“, murmelte Jason.

     „Aha.“ Dillion klang nicht sehr überzeugt. „Aber sie sagen nichts.“

Locor?, fragte da wieder die Stimme. Sie klang wie der Chor aus den drei Arkana. Eine Stimme, die wie der Wind in den Bergen klang. Eine zweite Stimme, die wie das Feuer der untergehenden Sonne klang. Und die Stimme, die wie der fallende Regen auf den harten kalten Berg klang. Und diese drei Stimmen der Natur vermischt zu einer einzigen. Der tiefe Klang, den die Stimmen zuvor gehabt hatten, war den vollkommenden Stimmen gewichen. Den Stimmen des Lebens. Wir sind da… Und retten dich!, murmelte der Chor aus den drei Arkana. Dann kommt!, antwortete eine harte, männliche Stimme. Folgt meiner Stimme. Und kommt mich holen! Acia ergriff die drei Arkana, die sie hatte, und hielt sie mit ausgestrecktem Arm in die Luft. Dann wartete sie. Ein stärkeres Leuchten ging von den metallenen Gegenständen aus und versprühte seine Funken in alle Richtungen. Dann gleißte das Licht einmal hell auf und bündelte sich zu einem Strahl, der geradewegs zu den leuchtenden Punkten in der Ferne zeigte. „Dann los“, sagte Caitlin und setzte sich wieder in Bewegung. Die anderen Controller folgten ihr. Die dunklen Silhouetten leuchteten schwach, während sie leise seufzend durch die Halle schwebten. Manchmal streifte ein Toter eines der Kinder und hielt dann kurz inne. Schließlich setzte es aber seinen Weg fort.

Der Lichtpunkt in der Ferne wurde mit jedem Schritt größer, die Anzahl der leuchtenden Toten immer weniger. Als sie sich dem Punkt ganz genähert hatten, merkten die Kinder, dass es ein Feuer war, in dem Schatten herumtanzten und mit ihren angedeuteten Gesichtern Fratzen schnitten. Wie kleine tanzende Teufel. Die kleinen Männchen öffneten abwechselnd den Mund und kicherten. Ab und zu stellten sie eine Frage.

     „Was macht ihr hier?“, fragte einer der schwarzen Schatten.

     „Ja genau“, wiederholte ein anderer. „Ihr seid nicht tot!“

     „Äh“, stotterte Carry. „Wir wollen, nein… wir suchen Locor Narcana. Schon mal von ihm gehört?“

     „Aber sicher“, kicherte ein kleiner Teufel zurück. „Er ist… beim Master.“

     „Und wo finden wir ihn?“, fragte Acia. „Wir müssen nämlich ganz dringend mit ihm sprechen, weshalb ich gerne eine Auskunft hätte.“

     „Aber da können wir dir doch nicht helfen“, brummelte ein Männchen und dies wurde von allen Seiten bejaht.

     „Genau“, pflichtete ein anderes Männchen bei, als es den vorherigen kleinen Teufel ablöste. „Wir wissen es doch gar nicht…“

     „Ja. Wir können höchstens mal mit den Toten einen kleinen Spaß machen… Zum Beispiel einen Witz reißen, aber… sonst?“

     „Und sind nämlich die Hände gebunden, ihr kleinen Wichtigtuer!“

     „Wer ist hier klein!?“, rief Dillion laut aus. Caitlin beruhigte den Jungen.

     „Könntet ihr uns denn den Weg beschreiben?“, fragte Carry, die sich zu den Männchen auf Augenhöhe gehockt hatte.

     „Vielleicht“, murmelte einer.

     „Vielleicht auch nicht“, murmelte ein anderer, der den vorherigen Teufel ablöste, in dem sie beide eine Position nach links tauschten.

     „Aber ich denke, ja“, sagte wieder ein anderer.

     „Sollte kein Problem sein“, murmelte der im Uhrzeigersinn nächste Teufel.

     „Ihr geht…“, sagte ein Teufel.

     „… zwei Schritte da entlang“, kicherte ein anderer.

„Und dann kommt ihr an einen Thron, auf dem der Herr des Todes sitzt und euch empfängt.“ Sie lachten, bis sie nicht mehr konnten. Manche verloren ihren Halt und stürzten aus dem Feuer, aber sofort sprangen sie wieder auf und drängelten sich zwischen die anderen Teufel, um weiter um die Flammen zu tanzen. „Zwei Schritte?“, fragte Acia ungläubig. „Ganz recht. Ihr müsst zwei Schritte gehen“, lachte ein Teufel. „In diese Richtung!“ Ungläubig setzten die Controller sich in Bewegung und gingen in die Richtung, die ihnen die Teufel empfohlen hatten. Schon nach zwei Schritten erreichten sie eine breite Treppenstufe, auf der eine weitere angelegt war, die wiederum zu einem Thron führte. Und auf diesem saß, in seiner vollen Größe und beeindruckenden Statur, Master Mors persönlich. Er hatte ein breites Grinsen, das in seinem Gesicht, welches nichts anderes als ein Totenschädel war, hervorstach. An der Kapuze, die Master Mors trug, war ein Umhang angenäht, der bis auf den Boden reichte. In einer Hand hielt der Tod eine Sanduhr, die an einer Kette baumelte, und in der anderen Hand eine große Sense, die ihn um mehr als einen Kopf überragte.

     „Was kann ich für euch tun?“, fragte Master Mors mit blecherner, ungewohnter Stimme.

     „Wir suchen jemanden“, sagte Giada und trat hervor.

     „Wen denn, ihr Sterblichen?“

     „Locor Narcana“, antwortete Caitlin und stellte sich neben Giada.

     „Oh“, erwiderte Mors. „Da kann ich euch nicht helfen. Ich weiß nicht, wo der Erfinder sich gerade aufhält. Aber… Was macht ihr neun Kinder, die noch ein ganzes Leben vor sich haben, im Reich der Toten?“

     „Wir brauchen die Hilfe von Locor Narcana. Denn nur er kann Circur vor dem Untergang bewahren“, sagte Acia mit flehender Stimme.

     „Aber“, entgegnete der Tod. „Was kümmert mich das Schicksal derjenigen, die dort oben leben? Ich habe hier unten meine Ruhe. Und wenn die ein oder anderen Menschen hinzukommen, dann freue ich mich auf neue Gesellschaft.“

     „Das können Sie nicht machen!“, rief Acia verzweifelt.

     „Was hält mich davon ab?“

Acia schwieg, dann wurde sie von Josh angestoßen, der sich leise mit der Anführerin unterhielt und dann etwas von ihr bekam. Josh trat hervor und hielt die drei Arkana in die Höhe. „Vielleicht kann Sie das hier überzeugen?“ – „Du irrst dich, mein Junge“, antwortete der Tod stattdessen. „Diese drei lächerlichen Arkana haben zwar mehr Schaden angerichtet, als du dir vorzustellen vermagst, aber hier unten kannst du sie nicht verwenden, zumal dir eh das vierte Arkanum der Erde fehlt.“

     „Und wer besitzt das?“

     „Na, wer wohl!“

     „Wo ist er?“, fragte Josh.

     „Ich weiß nicht“, entgegnete der Tod. „Ihr könntet ihn suchen gehen.“

Master Mors bedeutete den neun Kindern, dass das Gespräch beendet war und sie gehen sollten. Aber als sie schon fast aus seinem Blickfeld verschwunden waren, besann er sich noch einmal eines anderen und rief den Controllern etwas hinterher. „Hlióðs bið ec allar kindir meiri oc minni, mögo Heimdalar; vildo at ec, Valföðr, vel fyrtelia forn spiöll fira, þau er fremst um man.“ Dann verblasste sein Körper im Dunkeln und er verschwand.

     „Was?“, fragte Dillion, der kein Wort verstanden hatte.

„Die Sprache der Toten“, murmelte Jason. „Allen Edlen gebiet ich Andacht, Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht; Ich will Walvaters Wirken künden, Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne. Das ist der Anfang der Prosa Edda, der Entstehungssage der nordischen Völker. Auch der Untergang der Welt wird dort erwähnt. Aber warum ausgerechnet die erste Strophe?“ – „Ich weiß nicht“, gestand Acia und schlenderte durch die Halle, einmal im Kreis herum, bis sie wieder am großen Feuer angekommen war. Die Teufelchen schnitten immer noch Grimassen und Kicherten über die noch so geschmacklosesten Witze. „Dann wollen wir die Strophe mal systematisch ausknobeln, was?“, sagte Josh und bat Jason, den ersten Vers zu wiederholen.“

     „Allen Edlen gebiet ich Andacht„, zitierte Jason.

     „Okay“, begann Josh. „Sind wir edel?“

     „Nein“, sagte Acia. „Ich denke nicht.“

     „Ich stimme dir zu“, fügte Dillion hinzu.

     „Und der zweite Vers?“, bat Josh.

Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht„, wiederholten Jason. „Heimdall ist der Wächter der Brücke, die Asgard und Midgard miteinander verbindet. Zudem ist er auch einer der Hauptfiguren der Prosa Edda.“ – „Hat Heimdall nicht auch die Menschen erschaffen?“, fragte Carry, die in der Schule mal die Prosa Edda lernen musste. „Na klar!“, rief Jason. „Dann stammen die Menschen also alle von Heimdall ab?“, fragte Josh. „Aber was ist mit Hohen und Niedern…?“

     „Das könnten die reichen und armen Menschen sein“, schlug Giada vor.

     „Vielleicht“, murmelte Josh. „Was ist mit dem dritten Vers?“

     „Ich will Walvaters Wirken künden„, rezitierte Jason und fügte direkt den vierten und fünften Vers an. „ Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne.“

     „Was könnte damit gemeint sein?“, fragte Caitlin.

     „Ich weiß nicht“, gestand Josh.

     „Das Wirken von… Walvater… Wer ist das Jason?“

     „Das ist Odin, der Göttervater“, warf der Angesprochene ein und Caitlin fuhr fort. „Dann kündigt Heimdall also das Wirken, beziehungsweise die Taten von Odin an?“

     „Nein“, wandte Jason ein. „Heimdall kündigt das Wirken nicht an. Die Seherin Völuspá, oder war es Veleda?, hat die komplette Prosa Edda, beziehungsweise den ersten Teil, die Völuspá, aufgesagt und sie kündigt das Wirken von Odin an. Und die Entstehung der Menschen.“

     „Also geht es gar nicht um Heimdall und Odin!“, rief Acia aus. „Sondern um die Menschen, die Entstehung derer und den Untergang.“       

     „Dann macht auch Vers fünf Sinn“, murmelte Josh. „Die ältesten Sagen sind dann wohl die Teile der Prosa Edda.“

„Genau“, pflichtete Jason dem Jungen bei. „Und… Wenn man die erste Strophe mit den Menschen in Bezug bringt, insbesondere mit uns neun Kindern, dann kommt man auf, lasst mich kurz nachdenken… folgenden Schluss: Master Mors hat uns die erste Strophe der Völuspá aufgesagt, damit wir uns an die Entstehung der Menschen erinnern. Das haben wir gemacht und sind dann auf Heimdall und Odin, den Göttervater gekommen.“ Josh machte eine Pause, ehe er fortfuhr. „Heimdall hat, meiner Meinung nach, überhaupt nichts mit der Sache zu tun… ähh… natürlich doch! Also Heimdall steht ja für den Wächter, der den Ort hier bewacht, an dem Locor Narcana zu finden ist. Ein Wächter ist wahrscheinlich da, weil Locor oft zu fliehen versucht… “ – „Du könntest Recht haben“, meinte Giada.

     „Er hat Recht“, pflichtete einer der kleinen Teufel bei. „Aber wo Locor Narcana versteckt ist, darüber pflege ich zu schweigen, hihihi!“

     „Sehr witzig!“, sagte Acia sarkastisch. „Wo müssen wir suchen?“

     „Caitlin?“, bat Dillion. „Wo müssen wir entlang gehen?“

„Ich denke“, setzte das angesprochene Mädchen an. „Wir gehen nach dort.“ Sie deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die hinter dem Feuer lag. In der flackernden Luft war ein dunkler runder Eingang auszumachen, aus dem ein schwaches Licht drang, das vor kurzem noch nicht dort war. „Na dann“, murmelte Acia. Und dann gingen die neun Kinder los. Plötzlich, als die Controller gerade durch den Eingang der Höhle gegangen waren, rief Josh: „Halt!“

     „Was ist denn los?“, fragte Caitlin und alle Controller stoppen.

     „Wir müssen… Caitlin? Kannst du hier irgendwo eine Brücke entdecken?“

     „Ja.“ Caitlin nickte mit dem Kopf. „Wenn wir hier durchgehen, kommen wir an eine Brücke.“

     „Na dann“, sagte Josh. „Können wir weitergehen.“

Als der dunkle Gang ein Ende hatte, tat sich vor den neun Kindern eine Brücke auf. Sie schien schier endlos lang zu sein, weshalb die Controller etwas mehr als eine Stunde benötigten. Dann versperrte eine große, dunkle Tür den Weg. „Der Wächter“, platze es aus Iris heraus. „Ganz recht“, behauptete Josh. „Wie kriegen wir die Tür jetzt auf?“ – „Das kann Giada übernehmen“, schlug Carry vor, die Giada schon einmal in Aktion gesehen hatte, als sie die Tür zum Schlafgemach der Kanzlerin geöffnet hatte. Giada nickte mit dem Kopf. „Gut“, murmelte sie. „Dann macht mal Platz!“

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